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Preis: 15 Euro  

                                                                








                               Überleben in Karelien

                                     Frauenlager 517

                                         Padosero

Das rollende Gefängnis fährt uns in eine ungewisse Zukunft.

Ein Teil des Zuges ist unterwegs abgehängt worden, so verlieren

Heta und ich uns endgültig. Jahre später habe ich leider

erfahren, dass sie in Karelien geblieben ist, die Internierung

nicht überlebt hat.

Die Fahrt geht weiter, jeden Morgen schauen wir aus den Ritzen,

um festzustellen, wohin wir kommen.

Was wird aus uns?

Wohin bringen die Russen uns?

Das waren die Fragen, die wir uns andauernd stellten, voller

Unruhe und Verzweiflung. Antworten hatte niemand für uns.

Endlich, am 15.April 1945 scheint unser Ziel erreicht.

Endstation ist Finnisch Karelien. Eine tote Schneelandschaft

liegt vor uns, kein Lebewesen ist zu sehen, nicht einmal eine

verwehte Spur. Nur Schnee und Eis.

Wir steigen am Onega-See in der Nähe von Petrosawodsk mit

steifen Beinen aus dem Zug und finden uns mitten in einer

Eiswüste wieder. In Ostpreußen hatte bereits der Frühling begonnen.

Der Sommer nach der Kapitulation sollte einer der

Schönsten seit langem werden, als ob die Natur geahnt hätte,

dass der Krieg nun zu Ende war. Hier herrschen noch winterliche

Temperaturen weit unter null. Wir frieren entsetzlich, haben

wir doch nur die Kleidung am Körper, die wir bei unserer

Verhaftung gerade anhatten, einige konnten sich, als die Soldaten

in ihre Häuser stürmten, gerade noch einen Mantel oder

eine Jacke schnappen. Sonst hatten wir kein Gepäck dabei, den

Volksdeutschen ging es bei ihrer Verschleppung besser, die

durften ein paar Sachen und ein wenig Proviant mitnehmen.

Uns hatten sie einfach aufgegriffen, manchmal einfach von der

Straße weg und mit Gewalt auf den Lastwagen gezerrt.

Ich trage auch noch die Jacke, die ich bei meiner Verhaftung

anhatte. Obwohl ich sie fest um meinen Körper ziehe, ist mir

schrecklich kalt. Die Kälte ist nicht nur außen, sondern auch in

mir.

Erst 1946  werden wir für die russischen Winter ausgerüstet.

Vorerst müssen wir in unseren alten, verdreckten und

durch den Schnee bald völlig durchnässten Kleidern und Schuhen

zum Lager laufen.


Der Zug hält an einem Waldrand, weit außerhalb jeglicher

Zivilisation. Mitten in der Wildnis. Wir sind angekommen, am

Ende der Welt, scheint uns. Mühsam steigen wir aus, unsere

Glieder schmerzen, die lange Fahrt in dem engen Wagen, in

dem wir uns kaum bewegen konnten, hat uns steif werden lassen.

Der Schnee liegt hüfthoch, wir können kaum laufen, aber

stürzen uns entgegen aller Vorsicht erst einmal auf den Schnee,

um endlich den quälenden Durst zu löschen. Eine Einöde tut

sich vor uns auf, keine Menschenseele ist zu sehen, die Lager

liegen alle weit abseits von Städten und Dörfern in der Einsamkeit.

Die Wachen lassen uns keine Zeit, um uns nach Angehörigen

oder Freundinnen umzuschauen. Wir merken, dass viele Waggons

unterwegs abgehängt worden sind. Die Soldaten treiben

uns erbarmungslos an, sie fluchen und stoßen uns mit ihren

Bajonetten in den Rücken. Die wenigen Männer und Jungen

unter uns müssen an die Spitze und uns den Weg durch den

Schnee bahnen. Wir müssen einige Kilometer weit marschieren,

zuletzt führt der Weg ein Stück über den Onegasee, der

Mitte April noch teilweise zugefroren ist. Viele Frauen und

Mädchen schaffen diesen Gewaltmarsch nicht und bleiben auf

dem Eis liegen, wir sind alle völlig ausgehungert und erschöpft.

Gegenseitig versuchen wir uns zu stützen, denen zu

helfen, die noch schwächer sind als wir selbst, die nicht mehr

weiter können und aufgeben möchten. Plötzlich entdecken wir

Löcher im Eis, wieder denkt keine an die Gefahren, die dort

lauern, unser Durst ist einfach zu groß.

Endlich erreichen wir das Frauenlager 517, ein mit einem hohen

Stacheldraht umzäuntes Gelände, auf dem etwa zehn not-

dürftig gezimmerte Baracken stehen. An jeder Ecke steht ein

hoher hölzerner Wachturm mit schwer bewaffneten Posten. Bei

unserer Ankunft scheint gerade Wachablösung zu sein. Die

Posten werden von großen , wütend bellenden Hunden begleitet, die

Wachen rasseln mit den Ketten am Stacheldraht entlang, woraufhin

sich die Hunde wie wild gebärden. Wir sind völlig verängstigt.

Ich sehe mich zitternd vor dem Lagertor stehen, ich habe das

Gefühl, als sei ich ein steifgefrorenes Wäschestück, das vom

Wind hin und her bewegt wird. Der Schnee reicht bis zu meinen

Knien.

„Hier werden meine Tränen zu Eisperlen“, denke ich.

Das Lager ist von Stacheldraht umgeben, an jeder Ecke steht

ein hölzerner Wachturm. Das NKWD hatte Hunderte solcher

Lager errichtet, über die ganze riesige Sowjetunion verteilt.

Alle russischen Arbeitslager sehen ähnlich aus, das werden wir

noch merken, dieses Lager am Onegasee ist nur das Erste von

vielen, das ich im Laufe meiner Gefangenschaft kennenlernen

werde. Einige Frauen wurden sogar nach Sibirien transportiert,

andere in die Steppe Kasachstans, in das Donezbecken, an die

karelische Eismeerküste oder an den Ural, wohin ich später

auch kommen sollte. An eine Flucht ist nicht zu denken, wie

hätten wir in dieser Einöde überleben sollen. „Hier gibt es bestimmt

noch Wölfe“, fürchten wir.

Müde ziehen wir durch das Tor. Wir fühlen uns wie Sträflinge

und so werden wir auch behandelt.

Fassungslos schauen wir uns das Arbeitslager an, hier sollen

wir nun also leben und schuften, hinter Stacheldraht.

Die Zwangsarbeit war nichts als Schinderei. .

Ein Mädchen von sechzehn Jahren sollte die zerstörte Sowjetunion

wieder aufbauen helfen. Das war ein Hohn, wenn man

sich diesen Trupp kranker und schwacher Frauen vor Augen

führt, der da Mitte April ins Lager geführt wird. Wir alle können

uns kaum auf den Beinen halten.

Immer wieder frage ich mich, warum müssen wir diese Leiden

ertragen? Worin besteht meine Schuld? Ohne Gerichtsverfahren

gewaltsam verschleppt - wir können nicht begreifen, was

mit uns geschehen ist.

Wie lange wird unsere Haft dauern?

Ich glaube, wenn ich an diesem Tag gewusst hätte, dass ich

fünf lange Jahre in Russland festgehalten werden sollte, ich

hätte mich in diesem Moment aufgegeben.

Alles, was wir nun zu hören bekommen, sind die Worte:

„Dawaj, dawaj!“


In den ersten Wochen und Monaten kämpften wir alle nur um

unser Überleben. Jede vierte Frau hat den Hunger, die Kälte

und die Seuchen nicht überstanden, in den ersten beiden Jahren

war die Sterblichkeitsrate extrem hoch. Tausende von uns sind

nicht zurückgekehrt und liegen in anonymen Massengräbern in

Karelien, am Waldrand des nördlichen Ural, in den Weiten

Russlands begraben. Wir, die wir das Glück hatten, zu überleben

und nach Deutschland heimzukehren, leiden noch heute an

den gesundheitlichen und psychischen Folgen der langen Jahre

in Gefangenschaft.

1950 bekam ich eine Rotkreuz-Liste zugeschickt, auf der ich

auch meinen Namen fand.

„Martha Krause, verstorben“, steht da.

Mein Bruder Paul, damals fünfzehn Jahre alt, ist unter den seit

1945 vermissten Personen aufgeführt. Seine Spur verliert sich

im Bahnhofshotel von Bischofstein, das von der sowjetischen

Besatzungsmacht als Sammellager für die für den Transport

nach Russland vorgesehenen Menschen aus unserer Stadt genutzt

wurde. Wir wissen bis heute nicht, ob er damals bei einem

Fluchtversuch erschossen wurde oder später in russischer

Gefangenschaft gestorben ist. Paul gehört zu den vielen Menschen,

deren Schicksal wohl niemals aufgeklärt werden wird.

Meine Nichte Gabriele, die Tochter meiner ältesten Schwester

Maria und mein Patenkind, kam in den letzten Jahren oft zu

mir und bat mich, erzähle mir, wie war es, als der Krieg in Ostpreußen

wütete und was du erlebtest, als du nach Russland

verschleppt wurdest.

So habe ich mich heute nach Jahrzehnten entschlossen, dieses

Buch zu schreiben, obwohl sich die vielen Demütigungen und

Grausamkeiten, die ich erleben musste, kaum in Worte fassen

lassen. Vieles kann ich nicht erzählen. Gewiss ist im Laufe der

Zeit einiges in meiner Erinnerung verblasst, aber vergessen

kann ich diese schrecklichen Ereignisse wohl nie. In meinen

Träumen kehre ich noch heute an die Orte zurück, wo alles

geschah.

Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als die Russen

meine Heimatstadt Bischofstein einnahmen, dieser Tag ist tief

in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war der 29. Januar 1945.

Mehr als sechzig Jahre sind inzwischen vergangen und doch

sind mir die Ereignisse noch so gegenwärtig, als sei das alles

erst gestern geschehen. Noch immer ist es mir nicht möglich,

das ganze Leid, das wir erfahren mussten, in allen Details zu

schildern. Ich muss meine Erzählung oft unterbrechen, weil der

Rückblick mich stark aufwühlt und belastet, ich nachts nicht

mehr schlafen kann. Die schlimmen Träume von damals kehren

zurück, ich hoffe, dass mir das Schreiben bei der Bewältigung

helfen wird und ich danach mit diesem traumatischen

Kapitel meines Lebens endgültig abschließen kann.

In den ersten Jahren nach der Gefangenschaft konnte ich kaum

über meine Erlebnisse in Russland sprechen, nicht einmal mit

meinen Schwestern oder meiner Mutter.

„Du musst vergessen, Kind“, riet Mutter mir, als wir uns 1953

nach acht Jahren endlich wieder in die Arme schließen konnten.

Damals hätte ich mir Trost und Hilfe gewünscht, heute kann

ich meine Mutter verstehen. Sie hatte selbst eine sehr schlimme

Zeit hinter sich, war 1946 mit dem Rest ihrer Kinder aus der

Heimat vertrieben worden. Sie hat alles verloren und stand im

Alter von damals 52 Jahren vor dem Nichts. Außerdem hatten

wir nicht gelernt, über solch traumatische Erlebnisse, wie eine

Vergewaltigung, miteinander zu sprechen.

Über zwei Millionen deutsche Frauen sind bei Kriegsende

Opfer von brutalen Massenvergewaltigungen beim Einmarsch

der Roten Armee geworden, vom zwölfjährigen Mädchen bis

zur Großmutter. Angst und Verzweiflung trieben viele Frauen

in Berlin und im Osten Deutschlands in den Selbstmord. Nach

Angaben des Deutschen Historischen Museums in Berlin gab

es 240 000 Todesopfer infolge der Massenvergewaltigungen in

den letzten Kriegstagen. Viele von uns haben bis heute über die

Verbrechen, die die russischen Soldaten beim Einmarsch in

Ostpreußen an uns begingen, geschwiegen. Meist aus Scham.

Haben wir gesprochen, dann stießen wir nicht selten auf Unverständnis

und Abwehr.

14 Millionen Deutsche waren bei Kriegsende von Flucht und

Vertreibung betroffen, ungefähr 2 Millionen starben dabei.

Etwa 2,5 Millionen Menschen blieben in ihrer Heimat, wo sie

sich gewaltigen Repressionen ausgesetzt sahen. Hunderttausende

wurden nach Russland zwangsdeportiert.

Immer noch gibt es schreckliche Kriege auf der Welt, Flucht

und Vertreibung, Vergewaltigungen und Misshandlungen unschuldiger

Frauen und Mädchen, man denke nur an das ehemalige

Jugoslawien oder an Ruanda.

Immer sind es Frauen und Kinder, die im Krieg am meisten

leiden müssen.

Ich schreibe meine Geschichte nicht auf, um aufzurechnen,

das möchte ich ausdrücklich betonen, sondern um sie vor dem

Vergessenwerden zu bewahren und in der Hoffnung, dass unser

Schicksal die folgenden Generationen wenigstens zum

Nachdenken anregen wird.

Wiesbaden, im April 2008





                                   Sommer 1942

 

Seit Tagen sind wir nun schon unterwegs Richtung Osten und kommen doch nur langsam voran. Wir, das sind meine Freundinnen, Herta K. und Martha L., ich bin Paula Z. aus G. an der Mosel.

 

Wir sind auf dem Weg zum Einsatz an der Ostfront. Wie die vielen anderen Rotkreuzschwestern und Schwesternhelferinnen im Zug sollen wir dort verwundete Soldaten im Kriegslazarett pflegen.

 

Einige der jungen Frauen haben sich freiwillig zum Dienst bei der Wehrmacht gemeldet, voller Begeisterung sind sie in Wiesbaden aufgebrochen. Aus Russland kamen nur Siegesmeldungen, Hitlers „Blitzkrieg“ schien erfolgreich. Lange konnte der Krieg nicht mehr dauern. Wir würden als „Siegerinnen“in das besetzte Land kommen. Überglücklich - dem strengen Elternhaus zu entkommen - haben sich viele der jungen Frauen auf diese Reise begeben. Mitten hinein ins große Abenteuer, wie sie glauben. Sie wollen sich aktiv am Krieg gegen die Rote Armee beteiligen, wie ihre Väter und Brüder an vorderster Front stehen.

Wir drei haben uns nicht freiwillig gemeldet, wir sind zwangsverpflichtet worden. Ich wäre lieber zu Hause geblieben, um meinen Eltern und Geschwistern bei der Arbeit zu helfen. Bei der Ernte und Weinlese fehlen uns Leute. Aber alle Bitten um Rückstellung waren vergebens. Und nun sitzen wir hier im Güterwaggon und werden an die Front transportiert. Durch dieses fremde Land mit seinen großen Weiten. Riesige Felder bis zum Horizont, Weizen, Mais und Sonnenblumen so weit das Auge reicht.

 

Im Zug herrschen grauenvolle Zustände. Wie Vieh werden wir in schmutzige Waggons gepfercht. Drei Etagenbetten pro Wagen, überall stapelt sich das Gepäck, der Zug ist völlig überfüllt. Zum Glück ist Sommer, sonst müssten wir bestimmt auch noch frieren. Die Versorgung klappt nicht, das Essen ist knapp, es fehlt an Wasser zum Trinken und zum Waschen. Alles ist verdreckt und stinkig, viele Frauen haben Durchfall oder leiden an einer anderen üblen Krankheit. Herta vermisst ihren Brotbeutel. Erst bei unserer Ankunft am Dnjepr wird sie ihn finden, unter einem Bett, völlig verdreckt und zugeschissen. Unsere Notdurft müssen wir auf den Feldern verrichten, wenn der Zug endlich mal kurz hält.

Schaut euch das Foto an, da sitzen wir Schwestern auf dem Acker.

Ab und zu machen wir Rast in einer polnischen Stadt. An den Bahnhöfen kommen arme Kinder an unser Abteil und strecken uns die Händchen entgegen, sie betteln um Brot:

 „ Pani, bitte geben Chlebl“. Wir geben, was wir können, aber wir haben selbst kaum etwas zu essen. Diese Kinder werde ich nie vergessen.

 

Vier entsetzlich lange Wochen dauerte die Fahrt gen Osten. Ich weiß nicht mehr, durch welche Städte und Orte wir alles gekommen sind. Aber es ging durch Polen und die Ukraine bis nach Stalino, dort lag das Lazarett für die Verwundeten von Stalingrad. Dort erwartete uns das Grauen.

Vier Wochen auf der Schiene durch Osteuropa, verdreckt, verlaust und hungrig, so schickte man uns junge Frauen an die Front. Kein Vater, keine Mutter wusste, wo wir waren.

 

Paula ist damals gerade zwanzig Jahre alt.

 

Aus den vier Wochen werden fast vier Jahre, die sie in Kriegslazaretten eingesetzt wird. Erst im Mai 1945 kehrt sie zu ihrer Familie an die Mosel zurück.

Sie möchte helfen, aber es gibt kaum Möglichkeit dazu. Das Elend und die Not der russischen Zivilbevölkerung, das Leiden der Soldaten wird sie nie vergessen.

„Wie waren ja so dumm damals“, sagt sie heute über sich selbst und ihre damaligen Freundinnen und Kolleginnen. Waren viele junge Frauen nach den anfänglichen Siegen der deutschen Wehrmacht euphorisch in den Krieg nach Russland gezogen, sahen sie nun mit eigenen Augen, was Hitlers Vernichtungskrieg bedeutete, sahen das Morden und das Sterben von Millionen Menschen.

Bereits im Winter 1941 scheiterte Hitlers Versuch, die Sowjetunion in einem „Blitzkrieg“ zu unterwerfen, im März 1942 waren von den 3 Millionen deutschen Soldaten an der Ostfront schon über eine Million gefallen, in Kriegsgefangenschaft geraten oder galten als vermisst. Spätestens seit der Kapitulation von Stalingrad im Februar 1943 war den meisten Deutschen im Osten klar, dass der Krieg verloren war.

Russlands Bilanz am Ende des Krieges sprengt jegliche menschliche Vorstellungskraft: 20 Millionen getötete Bürger, darunter sieben Millionen Zivilisten. Rund drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene kamen ums Leben, das heißt exakt: Jeder Zweite, der in die Gewalt der deutschen Wehrmacht fiel, überlebte die Gefangenschaft nicht. In den besetzten Gebieten Osteuropas ermordeten die Nazis auf grausamste Art und Weise Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder. Viele Historiker haben Recht, wenn sie vom größten Schlachthaus in der Geschichte Europas sprechen.

Bis heute haben viele der rund 500.000 jungen Frauen, die bei der deutschen Wehrmacht eingezogen worden waren, die schrecklichen Erlebnisse nicht vergessen, die meisten haben aber Jahrzehnte geschwiegen. Die Erfahrungswelten dieser Frauen, sind bisher kaum erschlossen.

Genauso wenig, wie der Alltag des einfachen Soldaten  differenziert erfahrbar gemacht wurde. Jan Philipp Reemstma, der Mäzen der heftig umstrittenen Ausstellung zu den „Verbrechen der deutschen Wehrmacht“, hat festgestellt, dass es, obwohl immerhin 18 Millionen deutscher Männer zwischen 1945 und 1939 in der Wehrmacht ihren Dienst taten, wohl so etwas wie eine stillschweigende gesellschaftliche Vereinbarung gab, die den Umgang mit der Wehrmacht nach Kriegsende geprägt habe“: Es war wie ein Vertrag. Schweigt von euren Heldentaten und wir wollen von euren Verbrechen schweigen. So wurde - von innerfamiliären Ausnahmen abgesehen – von den persönlichen Erinnerungen geschwiegen.“(1)

Auch Paula M. hat einen Teil ihrer schlimmen Erfahrungen nicht verarbeiten können, noch sechzig Jahre später bricht sie bei ihrem Bericht in Tränen aus, fehlen ihr die Worte, um diesen schrecklichen Krieg zu schildern, den sie, weit weg von Heimat und Eltern, aus nächster Nähe erleben musste, in einem Alter, in dem sich andere junge Mädchen das erste Mal verlieben und von einer schönen Zukunft träumen. Sie ist ein Opfer, keine Frage, ihre Jugend, ihre Träume und Hoffnungen, wichtige Jahre ihres Lebens haben die Nazis ihr gestohlen, als sie das junge Mädchen von der Mosel an die Ostfront  schickten,

 

 

                                      G. im Sommer 2004

 

Ich treffe die inzwischen 82jährige Paula M., geborene Z., zum ersten Mal an einem heißen Sonntag im August 2004. In dem idyllischen Weinort G. herrscht Mittagsruhe, die mit Weinreben überrankten Gassen, die Weinlokale und Restaurants sind menschenleer.

Selbst die Touristen machen bei dieser Hitze Pause. Obwohl es in diesem hübschen Winzerdorf viele alte Fachwerkhäuser und Höfe zu bewundern gibt, ganz abgesehenen von dem guten, weit über die Region hinaus bekannten Wein, den man hier überall probieren kann, scheint der Ort zu schlafen.

Die Weinberge haben so wohlklingende Namen wie Himmelreich und Goldwingert. Eine Lage nennt sich Domprobst, ein kleiner Hinweis auf die Geschichte, denn viele Weinberge und Güter gehörten einst der Kirche. Der in nordwestlicher Richtung am Ortsausgang gelegene wunderschöne Josephshof, wird  noch immer Merteshof genannt, da er einst der Trierer Abtei St.Martin gehörte.

In G. - der Name stammt vermutlich aus keltischer Zeit - bauen die Leute seit tausend Jahren Wein an, so ist es zumindest urkundlich belegt. Wahrscheinlich ist der Weinbau jedoch älter, die Römer werden einst die Rebstöcke an die Mosel gebracht haben. Auch Paula stammt aus einer alten Winzerfamilie und hat fast ihr ganzes Leben im Wingert gearbeitet.

Heute gibt es zu dem guten Wein noch viel Sonnenschein gratis dazu. Von den Schatten der Vergangenheit ist nichts zu spüren. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein in G., und so ist man in der richtigen Stimmung, um Geschichten von früher zu hören.

Paula sitzt an diesem Sonntagnachmittag in ihrer kleinen, in freundlichem Gelb gestrichenen Küche, und ruht sich ein wenig aus. Hier ist es angenehm kühl, da das einstige Kelterhaus direkt angrenzt. In ihrer Kittelschürze, denn sie hat gerade erst den Abwasch gemacht, sitzt sie am Küchentisch und freut sich über den unerwarteten Besuch.

Paula hat sich eine kleine Pause redlich verdient, trotz ihrer 82 Jahre hat sie noch Arbeit genug. Da ist das große Haus, einstmals von ihr als Pension genutzt, heute stehen die Zimmer zwar leer, aber sauber gemacht werden müssen sie immer noch. Da ist der Garten, Paula züchtet gelbe Tomaten, eine ganz besondere Sorte, selbst mag sie keine Tomaten, aber so hat sie immer ein kleines Geschenk zur Hand. Da sind die vielen schönen Blumen rund ums Haus, natürlich selbst gezogen, die der Pflege bedürfen. Und da ist ihr 92jähriger kranker Ehemann Ernst, der ohne ihre Hilfe den Alltag nicht mehr bewältigen kann und rund um die Uhr von ihr betreut werden muss. Der Paula nachts nicht schlafen lässt, der grantig wird, wenn er keine Zigaretten bekommt, der ständig alles vergisst, mit dem man sich nicht mehr unterhalten kann. Da ist die Sorge um die Zukunft, um die Frage, wie es weitergehen soll, wenn sich der Gesundheitszustand ihres Mannes Ernst, mit dem sie jetzt seit 52 Jahren verheiratet ist, weiter verschlechtert.

Das alles zehrt an den Nerven und kostet viel Kraft. Dabei hat sie sich doch endlich ruhigere und friedlichere Zeiten gewünscht. Doch Paula hat viel innere Stärke und Kraft, das hat sie ihr ganzes Leben bewiesen.

„Ich kann, ich will, ich muss“, das Lebensmotto ihres Vaters, hat sie stets zu ihrem eigenen Leitspruch gemacht. Aber irgendwann lassen die Kräfte nach, dann braucht man Hilfe und Zuspruch. Unsere „Helferseele“ Paula, so nennt sie ihr Bruder Peter, weil seine Schwester immer nur für andere da war, für Familie, Freunde und Nachbarn, leidet darunter, dass einige ihr wichtige Menschen anscheinend vergessen haben, was sie ihnen in jungen Jahren Gutes getan hat.

Vielleicht wird sich das ändern, wenn sie Paulas Lebensgeschichte lesen und sehen, was sie als junge Frau im Krieg, als Schwester und später als Ehefrau und Mutter geleistet hat. Vielleicht wird sie das zum Nachdenken anregen und sie dazu bringen, Paula öfter  zu besuchen und nach ihr und ihrem Mann zu schauen.

 

 

Auf die Idee, die Lebensgeschichte ihrer Mutter aufschreiben zu lassen, ist die Tochter gekommen.

„Ich bin doch nicht so wichtig, als das man meine Geschichte aufschreiben sollte,“ versucht Paula zunächst meine Fragen abzuwehren, aber ich merke doch, dass ihr das Erinnern an früher große Freude bereitet, auch wenn es nicht nur schöne Zeiten sind, von denen an diesem sonnigen Augustsonntag die Rede ist, sondern auch schmerzliche Dinge zu Tage treten, die Paula vom Lachen zum Weinen bringen.

„Ich kann lachen, ich kann weinen, ich kann alles.“

Alte Erinnerungsstücke werden aus den Schubladen gekramt. Hochzeitsfotos und Familienbilder in schwarzweiß, Briefe von den Geschwistern, vergilbte Feldpost, Grußkarten aus längst vergessenen Urlauben, Gratulationsschreiben zur Goldenen Hochzeit, vergilbte Artikel aus der Lokalzeitung, Todesanzeigen, Paulas Schwesternmarke aus dem Krieg, das alte Krankenpflege-Lehrbuch, Heimatbücher, Paulas ganzes Leben wird auf dem Tisch ausgebreitet, längst verschüttete Erinnerungen werden wach und sie fängt an zu erzählen.

Aufrichtig, humorvoll und spontan berichtet sie von ihrer Heimat, ihrer Kindheit, von ihrer Familie, von den Leuten im Dorf, vom harten Leben der kleinen Winzer Anfang des letzten Jahrhunderts. Sie erzählt, was damals so alles auf der Stroaß und an der Musel passiert ist.

Zuerst redet sie nur mit ihrer Tochter, aber schnell fasst sie auch zu mir Vertrauen, ohne Scheu vor der Kamera, mit der ich ihre Geschichte festhalten möchte, erzählt sie mir von schönen und von traurigen Ereignissen in ihrem Leben. Amüsante Begebenheiten und lustige Anekdoten von früher kommen genauso vor wie tragische Geschichten über schwere Schicksalsschläge.

Unbefangen trägt sie alte Gedichte und Lieder vor, das kann sie gut, das hat sie früher oft im Familienkreis, aber auch auf öffentlichen Veranstaltungen gemacht, und ihre Zuhörer waren immer begeistert. Sie hat Humor, keine Frage.

Paula ist ehrlich und aufrichtig, selbst wenn es um sehr persönliche Dinge geht. Wichtig ist ihr, ihr Leben genau wiederzugeben, möglichst wahrheitsgemäß zu antworten. Lässt ihr Gedächtnis sie mal im Stich, ärgert sie sich. Als es um ihre Erlebnisse als Krankenschwester an der Ostfront geht, bedauert sie, dass sie kein Tagebuch geführt hat, um genauere Auskünfte geben zu können über das Grauen des Kriegsgeschehens. Sie weiß, dass ihre Geschichte wichtig ist, weil sie ein Teil der großen Geschichte ist, weil sie zu den wenigen noch lebenden Augenzeugen gehört.

Sie springt von einem Jahrzehnt zum anderen, manchmal bleibt das genaue Datum eines Geschehnisses im Dunkeln, trotzdem entsteht am Ende ein lebendiges Bild von „der guten alten Zeit“ auf dem Dorf, die nicht so gut war, wie so mancher Städter noch heute glauben mag. Paulas Geschichten zeigen uns, wie hart das Leben hinter den schönen Fassaden in Wirklichkeit im letzten Jahrhundert war. Sie berichtet über die beengten Wohnverhältnisse, die Armut und die tägliche Schinderei im Wingert und auf dem Feld. Besonders die kinderreichen Familien mussten um das tägliche Überleben kämpfen während der großen Wirtschaftskrisen am Ende der Weimarer Republik. Im Dritten Reich, als man die Bauern und das Leben auf dem Dorf verherrlichte, ging es den Leuten sogar noch schlechter. In der Nachkriegszeit, als die Wirtschaft am Boden lag, die Männer im Krieg gefallen oder noch in der Gefangenschaft waren, waren die Frauen auf sich gestellt, mussten Männerarbeit leisten und bis zum Umfallen schuften, um ihre Kinder durch den Hungerwinter 1946 zu bringen.

Paula M. hat kein leichtes Leben gehabt. Auch wenn sie den größten Teil ihres Lebens in dem beschaulichen Weindorf G. verbracht hat. Hier ist sie geboren worden, hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie ihren Mann gefunden und geheiratet. Trotzdem gab es in ihrem Leben kaum Platz für Romantik und Idylle. Eigene Wünsche und Träume hat sie als Mädchen und junge Frau nicht verwirklichen können. Ihre Ansprüche an das eigene Leben waren immer gering.

In ihrem Leben gab es nur Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit.

„Dat Paula wurde immer dahin gesteckt, wo ebbes zu machen war.“

Von klein auf musste sie mit anpacken, anders konnte eine Familie mit neun Kindern nicht durch die schlechten Zeiten kommen. Die Kinder sollten den Eltern gehorchen, eigene Wünsche und Forderungen mussten hinter dem Wohl der Familie zurückstehen. Schule und Ausbildung waren zweitrangig, an erster Stelle standen die Pflichten gegenüber der Familie.

„Ich hab immer nur geschafft“, sagt Paula deshalb immer wieder. „Auch später war ich nur für andere da. Wo, es was zu helfen gab, war ich zur Stelle.“

Die meisten Familien in G. sind Kleinwinzer, die zwischen einem halben und fünf Hektar Weinberg bewirtschaften. Es war früher an der Mosel üblich, das Erbe unter allen Kindern gerecht zu verteilen, die Weinberge und der gesamte Hausstand, von den Fässern, Pflügen, Sensen bis hin zu den Möbeln und der Bettwäsche. Der Kinderreichtum vieler Familien brachte es mit sich, dass die vererbten Parzellen kleiner und kleiner wurden, so dass die Nachkommen davon nicht mehr leben konnten. Deshalb gingen die Leute später dazu über, den Besitz nur an ein Kind zu vererben, das seine Geschwister dann auszahlen musste.

Auf diese Idee waren die reichen Weingutsbesitzer schon früher gekommen, dort durften in mehreren Generationen nur ein oder zwei Kinder heiraten, der Besitzstand wurde gewahrt, durch Einheirat in große Güter sogar stark vergrößert. Als zur Zeit der Säkularisation der Kirchenbesitz günstig zu erwerben war, gingen die Güter meist an reiche Leute von außerhalb, die Dorfbevölkerung glaubte, dass ihr das kirchliche Gut kein Glück brächte, und versäumte es, ihre Weinberge zu vergrößern. Die kleineren Winzer mussten sich meist ein Zubrot verdienen und nebenbei noch in der Landwirtschaft arbeiten. Der spärliche Ertrag, den ihre wenigen Rebstöcke abwarfen, reichte nicht zum Leben. Selbst wenn sie täglich von fünf Uhr früh bis abends spät schufteten, Männer wie Frauen, war es für die meisten sehr schwer, ihre vielen Kinder zu ernähren und zu kleiden.

„Wenn es Missernten gab, mussten die Leute halt sehen, wie sie durch den Winter kamen.“

 Paulas Familie musste zwar nie hungern, aber zu  Reichtum haben es ihre Eltern trotz großen Fleißes nicht gebracht. Fast alles wurde selbst hergestellt, vom Essen bis zum Schuhwerk, für Luxus war kein Pfennig übrig.

Paula schildert das harte Dasein der Winzerfrauen, die wie die Männer arbeiten mussten, manchmal sogar mehr. Oft stiegen sie als erste aus dem Bett und begaben sich als letzte abends zur Ruh. Die Nacht war kurz, frühmorgens musste erst das Vieh versorgt werden, dann die Familie. Die Frauen hatten so viele verschiedene Aufgaben in Haus und Hof, aber auch auf dem Feld und in den Weinbergen zu erledigen, dass sie oft gar nicht wussten, wo sie anfangen sollten. Sie lebten in ständiger Hetze. Die Wege zum Feld und zum Wingert waren weit und mühsam. Erst in den dreißiger Jahren gab es die ersten Fahrräder. Der Berg hinter Graach ist immerhin 250 Meter hoch, und die Frauen mussten täglich mehrmals hoch, um gleichzeitig Haus, Kinder und Vieh zu versorgen und die Feldarbeit zu machen. Sie waren für die Milchwirtschaft zuständig, hatten die Wäsche zu machen, ins Backhaus zu gehen, für die Großfamilie zu kochen, meist mit Zutaten aus dem eigenen Garten oder vom eigenen Acker. Daneben verdienten sich viele Frauen noch ein wenig Geld mit Handarbeiten oder verdingten sich als Tagelöhnerin bei größeren Winzern, weil das Familieneinkommen sonst nicht ausreichte. Zeit für sich, für eigene Interessen, Träume oder Wünsche hatte keine von ihnen. Selbst die Sonntage waren mit Arbeit ausgefüllt. Nur wenn sie gerade ein Kind geboren hatten, durften die Frauen in der Regel zehn Tage von der endlosen Schufterei ausspannen.

In Paulas Erzählungen wird das ganze Elend der Landfrauen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts deutlich. Viele Frauen wurden krank oder alterten früh.

Schon die Mädchen mussten ein Zubrot verdienen, auch Paula war als Hauswirtschaftshelferin in Velbert tätig.

Dann kam der Krieg. Viele Mädchen und Jungen mussten zum Reicharbeitsdienst, für Paula kam es noch schlimmer. Mit 19 Jahren wird sie eingezogen und als Schwesternhelferin an die Ostfront geschickt.

„Ich war die einzige Frau im Dorf, die in den Krieg nach Russland musste. Viele Leute im Dorf glauben mir das bis heute nicht.“

Viele Wehrmachtshelferinnen durften bereits nach einem Jahr zurück nach Hause, nur Paula muss drei lange Jahre im Osten bleiben. Sie arbeitet die meiste Zeit in der Kantine und soll für über 1200 Soldaten kochen.

Paula war damals noch sehr jung und unbedarft. Ihre große Hilfsbereitschaft wurde schamlos ausgenutzt. Als der Krieg verloren war, wird sie von ihren Vorgesetzten einfach zurückgelassen und muss sehen, wie sie sich allein nach Hause durchschlägt. Sie nimmt eine junge Russin mit auf die Flucht, die in Friedrichsfeld auf der Krim geborene Eugenia, von Paula liebevoll Jenia genannt, und rettet ihr vermutlich damit das Leben. Eugenia arbeitete als Dolmetscherin bei den Deutschen. Sie musste sich und ihre Tochter alleine versorgen, da die Russen ihren Mann nach Sibirien verschleppt hatten, weil er im Verdacht stand, mit den Nazis kollaboriert zu haben. Eines Tages hätte Jenia fast auch noch ihr einziges Kind verloren. Sie war an einem Wasserloch, um Wasser zu schöpfen, als die Russen ihre kleine Tochter abholen kamen. Glücklicherweise kam sie gerade noch rechtzeitig heim, um ihr Kind vom LKW zu holen und vor dem Abtransport zu retten.  Die Freundschaft zwischen Jenia und Paula hält ein ganzes Leben, ihre Familien besuchen sich später oft gegenseitig. Leider ist Eugenia inzwischen verstorben.

Im Mai 1945 kehrt Paula nach Hause zurück, zerlumpt und ausgehungert, ohne Gepäck kommt sie heim nach G. Die gesamte Wirtschaft liegt am Boden, die Weinberge sind verwildert, es gibt kein Heu fürs Vieh. Der Vater ist 1944 gestorben, kurz nachdem er die Nachricht vom „Heldentod“ seines Sohnes Alex, gefallen am 22.12.1943 bei Smela, bekam. Paula packt wieder an, kümmert sich um die verwitwete Mutter und die kleineren Geschwister, bringt die heruntergekommenen Felder und Wingerte in Ordnung. Wenn man Paula von den Nachkriegsjahren erzählen hört, weiß man, dass nicht nur die Trümmerfrauen in den Städten, sondern auch die Landfrauen Unglaubliches geleistet haben.

1950 heiratet Paula den zehn Jahre älteren verwitweten Ernst M., der eine Mutter für seine drei Söhne braucht. Sie zieht mit ihm auf die Schäferei, einem Ortsteil von G., in das Haus der ehemaligen Schwiegermutter ihres Mannes. Es sind ihre „verlorenen Jahre“, die unglücklichste Zeit in ihrem Leben, da sie sich ständigen Schikanen ausgesetzt sieht, obwohl sie weiterhin hart und unermüdlich arbeitet.

1955 wird ihre Tochter Gudrun geboren und die Familie zieht hinunter ins Dorf, in das ehemalige Elternhaus von Ernst. Es beginnen bessere Zeiten für Paula, sie kommt auf die Idee Fremdenzimmer zu vermieten, was ihr viel Spaß macht und auch ein wenig Geld einbringt, dass sie für die Renovierung der Pension einsetzt, der Rest wird an Weihnachten an Kinder und Enkel verteilt, für sich selbst gibt sie kaum etwas aus.

Heute lebt sie immer noch mit ihrem kranken Mann in der O., nur die Gästezimmer stehen leer. Aber einsam ist es nicht, fast täglich schaut eine der Nachbarinnen vorbei, was Abwechslung in den Alltag bringt. Abends, wenn es etwas kühler wird, findet man Paula und ihren Mann Ernst oft auf dem Bänkchen vor dem Haus, dann findet sich der ein oder andere G. ein und man hält ein kleines Schwätzchen.

Das war schon in früheren Zeiten so, dann gab es meist ein Gläschen „Bubbel“ für den Gast, das war der Haustrunk. Paulas Bruder Peter, auf dessen Erinnerungen ich manchmal zurückgreife, beschreibt eine solche abendliche Szene vor dem Elternhaus auf dem Gestade:

 

„Auf seinem Wege nach Hause kam der Weinkommissionär „Maddes“ nach Feierabend an meinem Elternhaus vorbei. Mein Vater gönnte sich eine wohlverdiente Ruhepause. Er saß, seine Pfeife rauchend auf einem Stück Baumstamm neben einer seiner Haustüren. Wie es früher üblich war, wurde Maddes zu einem Glas eingeladen. Hinzu gesellten sich auch noch unsere Nachbarn Fritz und Klääs. Mein Vater sagte zu mir: „Jung, geh mool zaabe“.

Natürlich war damit der Bubbel gemeint.

In so einer „Runde“ kam man immer mit einem Glas aus, aus Tarnungsgründen wurde das Glas später auch Beil genannt. Der Einschenker musste das erste Glas trinken. Aber nur dann, wenn er alt genug dazu war. Ansonsten war das die Pflicht des Gastgebers.

Als nun Maddes das Glas mit seinem goldgelben Inhalt probiert, entfuhr ihm folgendes. „Aber August, wie kannst du an einem gewöhnlichen Werktage so kostbaren 37er trinken.“

Diese Anekdote zeigt nicht nur, dass Paulas Vater guten Wein machte, selbst der Haustrunk, Bubbel genannt, war mehr als genießbar, sondern dass die Leute aus G. schon immer die Geselligkeit liebten.

Im Heimatmuseum hängt ein Foto mit dem Titel „Sonntagsruhe in der Fischergasse“. Darauf ist das Haus von Paulas Großvater Nikolaus, der in der Familie der „Zimmisch Weiße“ heißt, zu sehen.

An der Hauswand ist ein Brett montiert, das man herunterlassen kann, und das dann als Ruhebank dient. Viele Häuser in G. hatten eine solch praktische Vorrichtung. Die Bank konnte schnell wieder verstaut werden, falls ein Fuhrwerk durch die engen Gassen kam. Auf dem Foto sitzt dann auch der Großvater Nikolaus Zimmer auf seinem Bänkchen und unterhält sich mit dem Nachbarn, der seinen Küchenstuhl mitgebracht hat.

 

Damit sind wir bei Paulas  Vorfahren und den Anfängen der Familie in der Fischergasse gelandet. Aber lassen wir Paula selbst von ihrer Familie und Kindheit erzählen. Sie spricht oft Mundart. Ich bemühe mich manchen typischen Ausdruck wieder zu geben, auch wenn mir das als Rheinländerin nicht leicht fällt.